Krise und Mythos
Einleitende Gedanken
Der Begriff der Krise wird im therapeutischen Prozess zumeist persönlich gefasst. Der einzelne Mensch befindet sich in einer Krise. Vielleicht betrifft es noch die eigene Partnerschaft oder sogar die Familie. Eventuell sind die mitarbeitenden Kolleginnen am Arbeitsplatz auch noch betroffen, wenn sich eine persönliche Krise beispielsweise in Form eines Burn-outs manifestiert. Aus Sicht der archetypischen Psychologie nach C.G. Jung sollte jedoch zumindest der Therapeut auch die kollektive Perspektive des Unbewussten einnehmen. In jeder einzelnen Krise zeigt sich ein „innerer Weltkonflikt". Zunächst ist es die psychische Innenwelt, die von einem solchen Konflikt ergriffen wird. Es handelt sich zumeist nicht „nur" um eine Krise des Ichs, sondern es sind innere, kollektive Konfliktherde im archetypischen Raum, welche sich im Widerstreit befinden. ,,Die Götter haben wieder einmal Streit." Das was hiervon an die Oberfläche des ICH-Bewusstseins dringt, gleicht den Vulkanergüssen. Die Ursache der Eruption (Krise) liegt tiefer. Auch der therapeutische Umgang bzw. die Begleitung eines Menschen in Krisensituationen benötigt den Einbezug dieser tieferen unbewussten Seelenschicht. Schließlich will man dem Krisenherd auf den Grund gehen bzw. seine Ursachen erkennen. Auf den ersten Blick erscheint es ziemlich aussichtslos, auf der archetypischen Ebene therapeutische Interventionen zu setzen. Zu klein und machtlos ist der Mensch gegenüber diesen Kräften. Jedoch birgt alleine diese Sichtweise bereits die Möglichkeit zur Wandlung. Ähnlich einem ausbrechenden Vulkan geht es zunächst einmal darum, die Lage zu sichten, mögliche Schutzräume zu erkunden, die Gesetze und Rhythmen des Vulkans zu verstehen und somit die mögliche weitere Entwicklung einzuschätzen. Letztendlich geht es darum, mit dem Vulkan wieder in Einklang leben zu können, denn jeder Ausbruch kann auch Erneuerung und fruchtbare Erde mit sich bringen. Das wissen zumindest jene Menschen, welche seit Generationen in der Nähe eines solchen Vulkans wohnen. (Abb. 1) Die Dynamiken des kollektiven Unbewussten zeigen sich nicht nur in den Träumen des einzelnen Menschen, sondern auch in den Märchen und Mythen der Menschheit. Jedes einzelne Märchen und jeder Mythos zeigt zumindest eine Krisen-bzw. Konfliktsituation auf. Sie erzählen von typischen, aber auch außergewöhnlichen Krisenverläufen. Hierbei bekommt man Einblick in die Ursache wie auch in die Lösung der Krisensituationen. Die großen Krisen im Leben eines Menschen führen häufig zur Frage nach dem Sinn des eigenen Daseins. Diese Sinnkrisen sind auch spirituelle Krisen. Hier kann man besonders intensiv die bedrohliche, aber auch heilsame Kraft des schöpferischen Unbewussten erfahren. „Das kollektive Unbewusste ist gefährlicher als Dynamit, aber es gibt Wege, ohne allzu große Risiken damit umzugehen. Wenn man einen Zugang hat, so hat man im Falle einer seelischen Krise eine viel bessere Chance, sie zu lösen als jeder andere. Träume und Wachträume kommen einem zu Hilfe: Es lohnt sich, sie genauer zu betrachten. Jeder Traum birgt eine besondere Botschaft in sich: Er sagt einem nicht nur, dass etwas Tiefgreifendes nicht in Ordnung ist, sondern zeigt auch auf, wie aus der Krise herauszukommen ist. Denn das kollektive Unbewusste, welches solche Träume schickt, kennt die Lösung schon: In Tat und Wahrheit ging nichts vom Erfahrungsschatz, der sich seit undenklichen Zeiten in der Menschheitsgeschichte angesammelt hat, verloren; alle nur vorstellbaren Situationen und alle möglichen Lösungen sind im kollektiven Unbewussten aufbewahrt. Man braucht nur die ,Botschaft' sorgfältig zu beachten, die das Unbewusste übermittelt, und muss sie zu entziffern versuchen. Die Analyse hilft einem, solche Botschaften richtig zu verstehen." (Jung 1986, 83) (Abb. 2, 3)
C.G. Jung über mythologische Phantasie
Bekanntermaßen hat C.G. Jung bei seinen Forschungen bzgl. der Struktur des Unbewussten „Tiefenschichten des Unbewussten" entdeckt. Die bewusstseinsnähere Schicht nennt er das persönliche Unbewusste. Hier sind sämtliche biographischen Erfahrungen abgespeichert, die ein Mensch in seinem bisherigen Leben gemacht hat. Ferner benennt er eine zweite Schicht, das kollektive Unbewusste. Diese Schicht enthält die Erfahrungen der Menschheit und sie ist dem individuellen Menschenleben vorausgesetzt. Für dessen Erwerb benötigt er keine persönliche Erfahrung, sondern diese Seelenschichte ist dem Menschen mitgegeben. ,,Mit dem Begriffe eines persönlichen Unbewußten ist das Wesen des Unbewußten aber nicht völlig erfasst. Wäre das Unbewußte nur persönlich, so müsste es theoretisch möglich sein, alle Phantasien eines Geisteskranken zurückzuführen auf individuelle Erlebnisse und Eindrücke. Unzweifelhaft kann ein großer Teil solchen Materials auf die persönliche Lebensgeschichte zurückgeführt werden, aber es gibt Phantasiezusammenhänge, deren Wurzeln man vergeblich in der individuellen Vorgeschichte aufsuchen würde. Und was sind das für Phantasien? Es sind - mit einem Wort gesagt - mythologische Phantasien. Es sind Zusammenhänge, wie sie keinen Erlebnissen des persönlichen Daseins entsprechen, sondern bloß den Mythen." (Jung, 1974 , §11) Zu Recht fragt man sich nun, wo denn diese mythologischen Phantasien entspringen, wenn deren Ursache nicht auf persönlicher Erfahrungen beruht. Jungs Antwort ist eindeutig: ,,Unzweifelhaft kommen sie aus dem Gehirn, eben aus dem Gehirn und nicht aus persönlichen Erinnerungsspuren, sondern aus der vererbten Struktur des Gehirns." (ebenda § 11) Jung betont, dass aus diesem Teil des Gehirns die mythologischen Bilder entspringen, und geht noch näher auf diesen Prozess ein. (Abb. 4) „Solche Phantasien haben immer einen originellen, ,schöpferischen' Charakter. Sie muten an wie Neuschöpfungen; sie entspringen offenbar einer schöpferischen Arbeit des Gehirns und nicht bloß einer reproduktiven. Wir erhalten mit unserem Körper bekanntlich auch ein hochentwickeltes Gehirn, das seine ganze Geschichte mitbringt und, wenn es schöpferisch sich betätigt, eben aus seiner Geschichte, der Menschheitsgeschichte schöpft." (ebenda §12) Hier geht es nicht darum, dass das Gehirn dann sogenannte „objektive Geschichtsdaten" abrufen kann, sondern bestimmte Strukturen gebildet hat, die in ihrer phantastischen Ausformung unseren Mythen ähnlich sind. „Die schöpferische Phantasie hat mit dieser Geschichte nichts zu tun, sondern ausschließlich mit jener uralten, seit Unvordenklichem lebendig übermittelten natürlichen Geschichte: nämlich der Hirnstruktur. Und diese Struktur erzählt ihre Geschichte, welche die Geschichte der Menschheit ist, nämlich der unendliche Mythus von Tod und Wiedergeburt und jenen mannigfachen Gestalten, welche diesem Mysterium anwohnen.( .... ). Es lebt im schöpferischen Menschen, es offenbart sich in der Vision des Künstlers, in der Inspiration des Denkers, im inneren Erlebnis des Religiösen. "(ebenda) Durch diese Aussage von Jung sind wir bereits bei einem zentralen Thema angelangt. Die Geschichte der Menschheit dreht sich um das Thema Tod und Wiedergeburt. Diese bilden auch den Hintergrund jeder Krise. Krisen (griech. krisis: Scheidung, Streit, Entscheidung) begleiten den Menschen nicht nur von der Geburt bis zum Tod, sondern in ihrem Kern geht es darum, dass etwas absterben muss, damit etwas Neues entstehen kann. Es ist das Urprinzip des menschlichen Daseins. Der Mensch wird immer wieder vor neue Situationen gestellt, die nicht selten als kritische Phasen erlebt werden. (Abb. 5) Bei Krisen handelt es sich um einen Umbruchsprozess. Sie sind Bestandteil des lndividuationsprozesses, der nicht mit einer Stärkung des Egos (Ich-Optimierung) zu verwechseln ist. In der Mythologie verlangt jede Krise dem Menschen etwas ab, nicht nur an Kraft und Energie, sondern sie fordert Opfer. Kein Held kehrte je unverwundet von einer Irrfahrt oder Reise in die Unterwelt heim. ,,Darum bedeutet auch der Zusammenhang mit dem überpersönlichen oder kollektiven Unbewußten eine Erweiterung des Menschen über sich selbst hinaus, einen Tod für sein persönliches Wesen und eine Wiedergeburt in einer neuen Sphäre, wie dies wörtlich in gewissen antiken Mysterien dargestellt wurde. Allerdings ohne das Opfer des Menschen, wie er gegenwärtig ist, läßt sich der Mensch, wie er immer war (und immer sein wird), nicht erreichen. Von diesem Opfer des persönlichen Menschen weiß wohl der Künstler das meiste zu erzählen, wenn wir uns nicht schon am Inhalte der Evangelien genügen lassen." (ebenda § 13) Die Mythen zeigen uns auf, dass Krisen lebensgefährlich sein können und dass mit ihnen nicht zu spaßen ist. Krisenratgeber können nützlich sein, jedoch sollte man sich bewusst sein, dass der einzelne Mensch sich in einem Prozess befindet, in dem er auch mit inneren, archetypischen Kräften zu ringen hat. Dies zeigt sich oft in Albträumen, Existenzängsten, Projektionen, körperlichen Beschwerden, Antriebsschwäche (Erschöpfung) bis hin zu Sinnverlust und suizidalen Gedanken. ."Die Vorgänge im Unbewußten beeinflussen uns genauso viel wie die Primitiven; wir sind um nichts weniger von Krankheitsdämonen besessen, unsere Seele ist ebenso gefährdet, von einem feindlichen Einfluß getroffen zu werden, wir sind ebenso sehr die Beute überwallender Totengeister oder die Opfer eines von einer fremden Persönlichkeit ausgehenden magischen Charmes. Wir nennen dies alles nur anders und haben damit allerdings ebenso viel vor den Primitiven voraus, als ein anderer Name eben ausmacht. Das ist, wie bekannt, sehr wenig, und doch andererseits sehr viel. Es ist für die Menschheit stets eine Befreiung vom Alp gewesen, wenn der neue Name gefunden war. (. .. ) Wir haben als Kulturmenschen ein Alter von etwa fünfzehnhundert Jahren. Davor kommt eine prähistorische Zeitspanne von bedeutend größerer aber unbestimmter Länge, während welcher man etwa den Kulturzustand der Sioux-lndiander erreichte; und dann kommen unbestimmt viele Hunderttausende von Jahren der bloßen Steinkultur bis zurück zu einer vermutlich noch unendlich viel längeren Zeit, welche den Schritt vom Tier zum Menschen bewerkstelligte. Noch vor fünfzig Generationen waren wir sozusagen Primitive. Die Kulturschicht, diese sympathische Patina, dürfte also ganz außerordentlich dünn und delikat sein im Verhältnis zu den mächtig ausgebildeten primitiven Schichten der Seele. Diese Schichten formen das kollektive Unbewußte, zusammen mit den Relikten der Tierheit, die in unendliche, nebelhafte Tiefen zurückweisen." (ebenda §14 ff.) (Abb. 6)
Mythos und Krise
Der Zusammenhang zwischen Mythos und Krise liegt darin, dass Mythen oft Krisen und schwierige Situationen thematisieren. In Mythen werden häufig Konflikte, Bedrohungen oder Herausforderungen darge-
stellt, mit denen die Götter, Helden oder Menschen konfrontiert sind. Diese Krisen können verschiedener Art sein, wie zum Beispiel Kriege, Naturkatastrophen, persönliche Konflikte oder moralische Herausforderungen. Die Mythologie bietet oft Geschichten über den Umgang mit Krisensituationen und den Versuch, sie zu überwinden. Mythen können dabei helfen, Erklärungen, Lösungsansätze oder Lehren für den Umgang mit schwierigen Zeiten und Umständen zu geben. Sie können uns auch lehren über moralische Entscheidungen, ethisches Verhalten oder den Umgang mit Verlusten und Leid geben. Darüber hinaus können Mythen auch als metaphorische oder symbolische Darstellungen von existenziellen Krisen dienen. Sie können Fragen über den Sinn des Lebens, den Umgang mit Sterblichkeit, den Kampf zwischen Gut und Böse oder den Balanceakt zwischen Ordnung und Chaos aufwerfen. Insgesamt sind Mythen und Krisen eng miteinander verbunden, da Mythen oft als Weisheitssammlungen fungieren, um den Menschen zu helfen, schwierige Zeiten zu bewältigen, Antworten auf existenzielle Fragen zu finden oder moralische und ethische Dilemmata zu durchdenken.
Hinweis:
Den kompletten Artikel kann man in der Fachzeitschrift *gestaltungsprozesse Nr. 24.2024 nachlesen.
Die Zeitschrift ist über den Fachverband für Mal-und Gestaltungstherapie (FMGT) zu beziehen.
https://www.f-mgt.at/der-fachverband/gestaltunsprozesse/#abo